Mein Alltag- ein Stück mexikanischer Kultur

Nach einigen Wochen des Ankommens- und Eingewöhnungsprozesses, in denen ich allmählich vom Ausnahme-Alles-Neu-Zustand in den Alltag gerutscht bin, melde ich mich jetzt mit einem neuen Blogbeitrag zurück. Da sich sicherlich Einige fragen, was ich denn den lieben langen Tag so treibe, möchte ich euch zuerst einmal einen kleinen Einblick in meinen Alltag und meine Arbeit in der Helen Keller Schule geben.

Von meinem Weg zur Schule habe ich ja im letzten Beitrag schon berichtet. Nachdem ich also zu Hause gefrühstückt und den „Schulweg“ von zirka einer Stunde hinter mich gebracht habe, versammele ich mich mit Schülern und Lehrerinnen (fast immer) pünktlich um 9 Uhr im Hof der Schule. Die Kinder stellen sich zur Begrüßung, nach Klassen getrennt, in Reihen auf und folgen den Anweisungen der Lehrerin. Da heißt es zum Beispiel: „Alle maschieren im Gleichschritt auf der Stelle“, „Hände in die Hüften“ oder „Alle stramm stehen“. Bei „distancia uno“ wird der rechte Arm in die Höhe gestreckt, bei „distancia dos“ wird der Arm auf die Schulter des Vordermanns gelegt. In dieser Formation ziehen die Lehrerinnen dann nach und nach mit ihren Schülern in ihre Klassenräume und der Unterricht beginnt. Das Ganze bietet zunächst ein ungewöhnliches Schauspiel, gleicht an manchen Tagen aber weniger militärischem Salutieren, sondern mehr einem großen Armeisenhaufen.

Am Vormittag arbeite ich mit maestra Alejandra, die junge 22 Jahre alt ist, in der Vorschule. Ich helfe der Lehrerin bei der Vorbereitung der Aufgaben und danach den Kindern bei der Bearbeitung. Hier machen wir eigentlich jeden Tag das Gleiche: Figuren und Formen, welche auf ein Blattpapier gezeichnet sind, mit verschiedensten Stiften und Materialien ausmalen bzw bekleben. Bei den Materialien handelt es sich um Dinge wie Bohnen, Pasta, Haferflocken, Cornflakes oder Papierkügelchen. Die Umrisse der Figuren, die bearbeitet werden sollen, werden von den Lehrerinnen vorher mit Heißkleber beklebt. So können die Kinder die Figuren ertasten und wissen womit sie arbeiten. Oft müssen Gegenstände nach Material, Größe oder Form sortiert und verschiedenen Behältnissen zugeordnet werden. Bei anderen Aufgaben picksen die Kinder mit Punzones (einer Art Nadel) entlang von Wellen- oder Zick-Zack-Linien, die ebenfalls auf ein Blattpapier gemalt bzw geklebt sind. Ziel dieser Aufgaben ist es, ein Gespür für die Fingerspitzen und das Ertasten von Gegenständen zu bekommen. Das ist besonders wichtig für das Erlernen von Braille, der Blindenschrift, was in den nächsten Schuljahren folgen wird. Jede Woche wird ein anderes Themenfeld bearbeitet in Bereichen wie lenguaje y comunicación oder pensamiento matemático.  In der clase de música sollen die Kinder durch Bewegen und Tanzen zur Musik ein Gefühl für ihren Körper und ihre Umgebung erwerben.

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Nachdem gefrühstückt und gespielt wurde, werden die Kinder abgeholt und es geht für mich in die erste und zweite Klasse der primaria, geleitet von maestra Gloria. Ich unterstütze sie bei jeglichen gerade anfallenden Aufgaben. Diese unterscheiden sich um einiges von denen in der Vorschule. Es handelt es sich zum Beispiel um Einsammeln und Kontrollieren von Hausaufgaben, Diktieren von Buchstaben oder Wörtern, die die Kinder dann in ihrer speziellen Maschinen für Braille eingeben, gleiches gilt für die Matheaufgaben. Oft muss ich mit den Kindern die Tische für’s Mittagessen eindecken oder Dekorationen für Klassenräume und Schulgänge basteln. Auch wenn Basteln nie zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen gezählt hat (an dieser Stelle gehen Grüße raus an an meine Leiru und insbesondere an die liebe Hildegard), stelle ich mich hierbei gar nicht allzu übel an. Oft werde ich dabei unterstützt von Studentinnen, die ihren servicio sociál, den jeder Student in Mexiko absolvieren muss, an der Helen Keller Schule leisten.

Dadurch, dass die Kinder in der primaria schon ein gewisses Alter haben, ist meine Kommunikation mit und Beziehung zu ihnen um einiges besser. Sie interessieren sich für Deutschland und möchten wissen, was denn dies oder jenes auf Deutsch heißt oder ob es das überhaupt in meiner Heimat gibt. Besonders schön finde ich auch, dass Gloria trotz Bestimmtheit und Strenge, nicht nur immer sehr bemüht um und herzlich mit den Kinder ist, sondern das Gleiche auch auf ihren Umgang mit mir zutrifft. Zum Beispiel lässt sie mich den Kindern bestimmte Wörter diktieren, mit dem Ziel, dass mein Spanisch davon profitiert und ich Kenntnis in Braille und der Benutzung der Schreibmaschinen erwerbe. Oft übergibt sie mir Aufgaben mit den Worten „Tu puedes“ („Du kannst das“) und stellt stets sicher, dass sie nicht zu schnell redet und ich alles verstehe. Das hat mir natürlich gerade am Anfang eine gewisse Sicherheit gegeben, die mir meinen Alltag erleichtert hat. Nachdem ich den Kindern beim Essen geholfen und selbst zu Mittag gegessen habe, beginnt ab 15:30 Uhr mein Feierabend und ich kann meine Nachmittage nach Lust und Laune selber gestalten.

Durch mein Alltagsgeschäft komme ich natürlich in den direkten Kontakt mit der Mentalität der Mexikaner, welche im Allgemeinen ja bekannt sind für ihr Temperament, die Liebe zur Musik, für Fiestas und gutes Essen. Auch wenn ich von Klischeés normalerweise nicht viel halte, fühle ich mich hier in den meisten bestätigt- zu meinem Glück. Denn wenn dem Busfahrer beim Aussteigen gedankt wird oder wenn ich von Leuten, die ich gerade erst kennengelernt habe, zum Essen oder direkt nach Hause eingeladen werde (ganz nach dem Motto „mi casa es tu casa“), dann treffe ich in dem Land, das für ein Jahr mein neues Zuhause ist, nur selten auf Unhöflichkeit. Von Anfang an wurde mir Offenheit und Empathie entgegen gebracht. Aber ich musste lernen, dass diese Werte gegebenenfalls wichtiger sind als feste Pläne und Verabredungen. Somit gab, und gibt es immer noch, einige Dinge, an die ich mich erst gewöhnen muss. Bis man die Mexikaner und ihre Mentalität verstanden hat und ganz darin eingetaucht ist, braucht es auf jeden Fall ein bisschen Zeit und wahrscheinlich Erfahrung. Aber das macht ja unter anderem auch den Reiz eines solchen Auslandaufenthaltes aus. Ich finde es immer schwierig von „der Kultur“ oder „den Mexikanern“ als solchen zu reden, aber mit Sicherheit kann ich Folgendes sagen: Jeder Mexikaner ist stolz auf sein Land, seine Heimat, die Familienbande, das Essen und die Traditionen. Und das kriegt man bei jeder Gelegenheit zu spüren. Die Traditionen des Landes äußern sich in verschiedensten Kunsthandwerken, die an Straßenständen und auf Märkten verkauft werden oder in der Musik der Mariachi, zu der bei den fiestas ausgelassen getanzt und gesungen wird, die man aber auch gerne mal am Kiosk um die Ecke hören kann. Ich könnte noch wahnsinnig viel mehr aufzählen. Aber ich möchte ein bisschen mehr auf die mexikanischen Feiertage eingehen, die in meinen Augen eins der besten Beispiele für die feste Verankerung der Traditionen in der mexikanischen Kultur und in dem mexikanischen Alltag sind.

Während sich in Deutschland nach meinem Empfinden die meisten beim Wort „Feiertag“  vielmehr an der Tatsache des „Frei-Habens“ erfreuen, und sich weniger mit der Bedeutung des Tages auseinandersetzten, steht hier die Bedeutung im Vordergrund. Oft geht es um den mexikanischen Nationalstolz, um Unabhängigkeit, Dankbarkeit oder die Familie.

Mexiko lebte und litt viele Jahre unter der Kolonialherrschaft Spaniens. Am 16. September, dem mexikanischen Nationalfeiertag „Dìa de la Independencia„, wird an den Tag erinnert, an dem Miguel Hidalgo 1810 zur Rebellion gegen die Spanier aufrief. Der darauffolgende „Mexikanische Unabhängigkeitskrieg“ endete im Jahr 1821 mit der Unabhängigkeit Mexikos. Seitdem wird dieser Tag jedes Jahr groß gefeiert wird und somit auch an diejenigen gedacht, die damals dafür gekämpft haben, dass Mexiko von Unterdrückung und Leid befreit wird. Am Tag vorher, dem 15. September, wird der „Grito de Dolores“ von jedem Rathaus Mexikos wiederholt. Da heißt es zum Beispiel „Es lebe Hidalgo“ und die versammelte Menschenmenge antwortet „¡Viva!“. Beendet wird die Zeremonie mit den Worten „¡Viva México!“. (Daher kommt der Name unseres Blogs). Wer sich das Ganze mal anschauen möchte, findet hier ein Video der diesjährigen Feierlichkeiten. Unverkennbar sind die Farben der mexikanischen Flagge -rot, weiß, grün, welche schon in den Wochen vorher Häuser und Straßen zieren und den mexikanischen Nationalstolz zum Ausdruck bringen.

Natürlich wurde auch in meiner Schule und meinem Wohnheim ausgiebig gefeiert. Die Kinder kamen in traditionellen Kleidern oder verkleideten sich als wichtige Personen der mexikanischen Geschichte – Frida Kahlo, Cristopher Columbus… Es wurde die Nationalhymne gesungen, die mexikanische Flagge geschwenkt und der Mut der Revolucionarios geehrt. Zum Schluss wurde typisch mexikanisches Essen serviert und das beste Kostüm mit einem Preis gekürt.

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Der Oktober hielt mit den „Fiestas de Octubre“ die nächsten Feierlichkeiten bereit. Guadalajara’s großes Fest bietet den ganzen Monat lang Unterhaltung auf einer riesigen Kirmes am Rande der Stadt. Mit allem was dazu gehört: Riesenrad, Achterbahnen und Zuckerwatte. Auch die Helen Keller Schule hat sich die Chance auf einen Ritt mit den Fahrgeschäften nicht nehmen lassen. Im Reisebus ging’s mit allen zu den großen Fiestas.

Allerheiligen? Hab ich schon mal gehört, aber was war das nochmal genau…? Der „Día de Muertos“ am 2. November ist einer der wichtigsten Feiertage in Mexiko und ist mehr oder weniger vergleichbar mit dem, was wir unter „Allerheiligen“ kennen – nur viel spektakulärer. Der mexikanische Totenkult hinterlässt Eindruck. Der Tag, an dem traditionell den Verstorben gedacht wird, gleicht hier, so makaber das klingen mag, eher einem großen Volksfest. In Straßen und Häusern werden, meist siebenstufige, Altare aufgebaut. Sie sind geschmückt mit gelben Ringelblumen, die den Verstorbenen den Weg aus dem Reich der Toten zurück auf die Erde weisen sollen; Sie sind bestückt mit Dingen, die die Verstorbenen vielleicht vermissen könnten; mit Essen und Trinken, um sich nach der Reise zu stärken und gemeinsam mit der Familie zu speisen. Nicht selten sieht man also das bekannte Pan de Muertos, Totenköpfe aus Zuckerguss, eine Flasche Agavenschnaps oder andere Geschenke. Wasser und Seife, dienen dazu sich nach der langen Reise zu säubern. Man sagt, dass die Verstorbenen im Jenseits weiterleben und einmal im Jahr zu ihren Familien, die sich an besagtem Tag an den Gräbern und Altären versammeln, auf die Erde zurückkehren können, solange ihr Portrait am „Día de Muertos“ aufgestellt wird und sie somit nicht in Vergessenheit geraten.

Frauen und Mädchen verkleiden oder schminken sich als Catrinas, eine Repräsentation des Todes, und ziehen bei verschiedenen Paraden durch die Straßen. Der Tod als Teil des Lebens, ist in Mexiko also Anlass zum fröhlichen Feiern und nicht zur Trauer. Die Stimmung und die kunstvollen und farbenfrohen Dekorationen, die unter anderem wochenlange Vorbereitung brauchen, machen besonderen Charme aus. Das kommerziell ausgerichtete Halloween, welches ja vor allem aus Nordamerika sehr bekannt ist, sehen manche als Bedrohung für dieses traditionelle Brauchtum. Es wird in Mexiko daher sehr klar getrennt zwischen „dem Tag der Toten“ und „Halloween“.

In der Schule wurden neben Calaveritas (kurze, „witzige“ Gedichte), auch die Bedeutungen der Gegenstände auf und um den Altar vorgetragen. Es wurde viel gesungen und gelacht.

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Feierlichkeiten wie diese, haben mich zum nachdenken gebracht. Ich habe mich mehr damit auseinandergesetzt, was denn eigentlich „die deutsche Kultur“, die ja öfter in der Politik zum Thema gemacht wird, zuletzt auch bei der Bundestagswahl, ausmacht. Oder woran man „die Kultur“ eigentlich festmacht. Im Vergleich Deutschland-Mexiko wird ja zum Beispiel deutlich, dass es in Deutschland längst nicht so ausgeprägte, landesspezifische Traditionen gibt, wie hier.

Fazit: Ich freue mich sehr darauf in den nächsten Monaten noch mehr vom Land der Mexikaner- ihrer Mentalität, ihren Traditionen und ihrem leckeren Essen kennenzulernen.

Wenn es Themen geben sollte, die euch interessieren und von denen ihr euch wünscht, dass ich sie in meinen nächsten Blogeintrag mit aufnehme, könnt ihr mit diese gerne gemeinsam mit euren Fragen oder eurem Feedback per Mail schicken.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2 Kommentare zu „Mein Alltag- ein Stück mexikanischer Kultur

  1. Wow! In doch recht kurzer Zeit, schon so viel Tolles und Neues erlebt. Zum Totenfest gibt es übrigens eine ganz ausgebreitete und stimmungsvolle Szene im letzten James Bond Film. Spielt in Mexico City, wo du gerade bist…..

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